Redebeitrag zum Antrag von Linke und Bündnis 90/Die Grünen „Effektiven Diskriminierungsschutz bundesweit ermöglichen – Bundesratsinitiative für eine Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes“

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Gestern empfing ich eine Gruppe von Schülerinnen der Carl-von-Ossietzky-Gemeinschaftsschule, die ich einige Wochen zuvor im Rahmen des „Gesicht Zeigen!“-Projekts in ihrer Schule in Kreuzberg kennengelernt hatte. Einige von ihnen tragen ein Kopftuch, andere haben eine Behinderung, wieder andere sind gerade aus der Ukraine geflüchtet, der deutschen Sprache kaum mächtig; eine Berliner Alltäglichkeit, kaum der Rede wert, und doch: Ein Dutzend Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen, diversesten Weltansichten und vielfältigsten Erfahrungen, die wir waren, saßen wir zusammen und sprachen über Normalität, Gerechtigkeit und darüber, einfach sein zu können. Wenn „sein können“ ein Sehnsuchtsort ist, ist Ungleichbehandlung eine Gewohnheit. Und so ist eben auch Ungleichbehandlung und Diskriminierung eine Berliner Alltäglichkeit. Auch unter diesem Eindruck hat Berlin eine deutschlandweit einzigartige Pionierarbeit vorgelegt und sich ein Landesantidiskriminierungsgesetz gegeben.

Das hat da, wo es landesrechtlich möglich ist, Schutzlücken geschlossen, die auch das vor fast 20 Jahren erlassene AGG aufweist. Wir haben es mit dem LADG bewiesen und müssen es auch jetzt tun: vorangehen. Berlin bleibt in der Pflicht, denn so ungerecht und unerträglich es ist, Diskriminierung und Ungleichbehandlung auch als eine Berliner Alltäglichkeit zu betrachten – das Bekenntnis zu einer Kultur der Wertschätzung von Vielfalt bleibt ebenso ein vehementes Berliner Leitprinzip, und ich hatte den Senat bislang so verstanden, als würden sie sich auch zu diesem Leitprinzip bekennen.

Diejenigen, die des Schutzes unserer Gesellschaft bedürfen – und ja, Antidiskriminierung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe –, sollen ihn bekommen. Dafür braucht es punktgenaue Werkzeuge, die mit einer Reform des AGG einhergehen. Der Merkmalskatalog des AGG bedarf einer Präzisierung; Diskriminierung ist mehrdimensional. Die Verflechtung sogenannter Diversitätsmerkmale birgt Komplexitäten, die für ihre Überwindung eben auch sichtbar gemacht werden müssen. Der Schutz vor sexueller Belästigung muss derweil auch ausgeweitet werden, denn auch jenseits des Bereichs der Beschäftigung erleben Betroffene sexuelle Belästigung. Diese Einschränkung muss aufgehoben werden. Zu guter Letzt: Es bedarf wirksamer Mechanismen zum Schutz vor Diskriminierung im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention, denn das Versagen von Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderung ist Diskriminierung.

Auch im Bereich der Klagefristen braucht es eine Anpassung. Es kann Wochen oder gar Monate dauern, bis die eigene Diskriminierung erkannt, verstanden oder angenommen wird. Das Wissen um Antidiskriminierungsrechte, sich mit staatlicher Hilfe wehren zu können, gehört ebenso wenig zum Allgemeinwissen. Schlussendlich sind auch strukturelle Hürden wie beispielsweise überlaufene Beratungsstellen oder der Mangel an notwendigem Fachpersonal Gründe, weshalb Klagefristen verlängert werden müssen. Bei jedem mangelhaften Kühlschrank gibt es eine längere Klagefrist als für die Rechtdurchsetzung gegen Diskriminierung. Da muss man sich als Gesetzgeber schon mal nach den Prioritäten fragen lassen.

Sie erleben es wie ich: Die Diskussion um Diskriminierungsfreiheit, Gleichbehandlung und gerechte Teilhabe scheint hier und andernorts einige besonders herauszufordern. Glauben Sie mir, ich bin nicht der Illusion erlegen zu glauben, menschenfeindliche Demokratieverächter bekehren zu können. Meine Worte richten sich gar nicht an sie. Wer in den Schülerinnen der Carl-von-Ossietzky-Schule Potenziale sieht, Versprechen, Zukunft, Perspektiven oder auch einfach nur stinknormale Mädchen, der sieht auch ihre Ungleichbehandlung; der sieht auch die vergebenen Chancen, die zunehmende Entfremdung und ihre Ausgrenzung. Wir können uns den zweifelhaften Luxus gar nicht leisten, Menschen zu marginalisieren, Teilhabechancen nach meritokratischem Prinzip zu vergeben. Und überhaupt, wann kommt endlich die Erkenntnis: Antidiskriminierung ist ein Recht, keine Bitte?

Herr Regierender Bürgermeister! Auch wenn Ihnen Herr Graßelt gerade wortreich widersprochen hat, hatten wir Ihre Signale zumindest in der Zusammensetzung des Senats so verstanden, dass Sie sich sehr wohl für Antidiskriminierung und für die Rechte von Minderheiten und marginalisierten Gruppen einsetzen wollen – aber nicht nur hier in Berlin! Hier ist das Gratismut. Wer den Mund spitzt, der muss auch pfeifen, auch gegenüber den anderen Bundesländern und hinüber zum Bund. Setzen Sie sich im Bundesrat für effektiven bundesweiten Diskriminierungsschutz ein! Setzen Sie sich für eine Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes ein! Der von den Nationalsozialisten verfolgte, gefolterte und an den Folgen verstorbene Carl von Ossietzky schrieb: Wir können nicht an das Gewissen der Welt appellieren, wenn unser eigenes Gewissen schläft. Vielen Dank!