Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein Herbsttag. Die Sonne scheint. Meine Mutter und ich kommen am Supermarkt an. Ich sage ihr, sie solle schon einmal in den Markt laufen, ich würde uns einen Einkaufswagen besorgen und sie einholen. Auf dem Weg zurück sehe ich, wie sie am Supermarkteingang von einer adrett gekleideten, sorgfältig frisierten Frau – vielleicht 50, vielleicht 55 Jahre, Verwaltungsbeamtin oder Vorstandssekretärin – barsch zur Seite geschubst wird. So beiläufig wie selbstverständlich schubst sie meine verdutzte, 64-jährige, kopftuchtragende Mutter zur Seite. Es ist Platz für mindestens drei weitere Personen, um durch die Eingangstür zu kommen. Diese Frau findet aber, dass meine Mutter ihr unberechtigterweise im Weg steht. Als ich sie frage, wieso sie meine Mutter schubse, antwortet sie überzeugt: Bei uns in Deutschland macht man anderen Menschen Platz.
Es wird in der heutigen Zeit zunehmend schwieriger, über die rassistische Diskriminierung von Musliminnen, Muslimen und muslimisch gelesenen Menschen zu sprechen. Musliminnen und Muslime werden in der öffentlichen, medialen Rezeption viel zu häufig als die eigentlichen Aggressoren, als die Täter oder als Störenfriede dargestellt. Gewalt gegen muslimische oder als solche gelesene Menschen werden als Einzelfälle abgetan, während Fehlverhalten oder Straftaten von muslimischen Täterinnen und Tätern sich auf die Wahrnehmung aller Musliminnen und Muslime auswirkt.
Register und Anlaufstellen beklagen einen seit dem 7. Oktober 2023 massiv angestiegenen, gewaltvollen Antisemitismus. In der gleichen Zeit ist auch der antimuslimische Rassismus angestiegen, und da gibt es einen Zusammenhang: Musliminnen und Muslime werden mit dem antisemitischen Terror der Hamas gleichgesetzt. Sie allein werden für den gestiegenen Antisemitismus in Deutschland verantwortlich gemacht. Und selbstverständlich gibt es auch unter Musliminnen und Muslimen ein Antisemitismusproblem – genau so, wie es das in jeder anderen Bevölkerungsgruppe auch gibt, mal mehr, mal weniger.
Aber wie falsch ist es, den grassierenden Antisemitismus bekämpfen zu wollen, indem man Musliminnen und Muslime und sichtbares muslimisches Leben bekämpft?
Sie alle wissen, dass Berlin vielfältig ist, und das meint eben auch: aufgebaut und geprägt auch von muslimischer Einwanderung. Die Expert*innenkommission antimuslimischer Rassismus des Senats, über deren Handlungsempfehlungen wir heute sprechen, wurde unter dem Eindruck des Terroranschlags von Hanau gegründet. Zwei Tage nach diesem Anschlag fand der Bundeskongress der Neuen Deutschen Organisation statt: ein Raum voller Menschen, die in der Antirassismusarbeit engagiert sind, hielten gemeinsam inne, viele von ihnen mit eigenen Rassismuserfahrungen. Der Kampf gegen Rassismus, gegen antimuslimischen Rassismus, war zu einem Überlebenskampf geworden.
Damals haben wir uns als Gesellschaft geeinigt: Wir stehen gemeinsam, solidarisch und empathisch an der Seite der von Rassismus und Antisemitismus betroffenen Menschen. Damals sind wir enger zusammengerückt. Heute sollten Sie sich, werte Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, fragen: Gelten die Werte Gemeinsamkeit, Solidarität und Empathie immer noch für alle? Hängen Bedingungen an ihnen, für alle oder für einige? Heute sind Sie gefragt.
Wir wiederum freuen uns heute, dass unsere Anträge vom Senat zum Anlass genommen wurden, nun eine Stelle eines oder einer Beauftragten gegen antimuslimischen Rassismus einrichten zu wollen. Wer sagt, Opposition sei Mist, hat wirklich keine Ahnung.
Die Handlungsempfehlungen gegen antimuslimischen Rassismus der senatseigenen Expert*innenkommission hingegen liegen nun schon seit über zwei Jahren vor, und umgesetzt ist davon noch nichts. Es reicht nicht, sich nur darüber zu freuen, dass Musliminnen und Muslime Sie wählen. Sie müssen den mit den Stimmen verbundenen Erwartungen schon auch gerecht werden. Mit Symbolik oder Schaufenstern allein ist noch nichts erreicht.
Kürzlich kam meine Nachbarin freudestrahlend in mein Weddinger Kiezbüro. Sie erzählte, auf dem Weg zur Arbeit hätte sie eine ältere Frau im Bus am Arm gepackt und dann gesagt: Sie sind wirklich sehr elegant gekleidet. Ihr Rock und Ihr Kopftuch passen wirklich toll zusammen. Sie hätten dieses Bild sehen müssen. Während meine Nachbarin lachend von dieser Begegnung erzählte, liefen ihr zeitgleich Tränen über die Wangen. Es könnte so einfach sein. Vielen Dank!